Vorbemerkung: Der folgende Text enthält ein Statement der Jungen Tafel Göttingen, der Nachwuchsorganisation der Tafel Göttingen e.V. Die darin geäußerten Meinungen stimmen nicht notwendig mit denen der Tafel Göttingen überein. Die Tafel Göttingen schätzt und unterstützt das Engagement der JuTa, insbesondere auch dann, wenn es sich nicht auf den Kernbereich der alltäglichen Tafelarbeit beschränkt. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, diesen sicherlich etwas kontroversen Text auf diesem Wege zu veröffentlichen.
Der Hochhauskomplex in der Groner Landstraße 9,a,b stand jetzt eine Woche lang unter Quarantäne. Da dort über 10% aller Göttinger Tafel-Kund*innen wohnen, beobachtet die Junge Tafel Göttingen die aktuellen Entwicklungen mit großer Sorge. Doch nicht erst seit letzter Woche ist Stigmatisierung von Armut ein Problem. Nicht erst seit letzter Woche erfahren die dort lebenden Menschen Rassismus. Nicht erst seit letzter Woche läuft der Wohnungsmarkt in Göttingen aus dem Ruder. Und nicht erst seit letzter Woche ist die Stadtverwaltung der berechtigten Kritik ausgesetzt, sie vernachlässige die Interessen der Armen und Ärmsten in dieser Stadt – besonders während der aktuellen Covid-19-Pandemie. Hiermit schließt sich die Junge Tafel Göttingen dieser Kritik an.
Die Junge Tafel Göttingen ist ein Zusammenschluss junger Ehrenamtlicher bei der Tafel Göttingen. Neben der regelmäßigen Mitarbeit im regulären Tafel-Alltag (Abholen, Sortieren und Ausgeben von Lebensmittelspenden) setzen wir eigenständig Projekte in den Bereichen Öffentlichkeits-, Bildungs- und Verbandsarbeit sowie politischer Arbeit um.
Bisher getroffene Maßnahmen
Eine Ausgangssperre für über 700 Personen stellt einen massiven Eingriff in deren Grundrechte dar. Angesichts der hohen Fallzahlen betont die Stadtverwaltung, dass dieser notwendig, angemessen und verhältnismäßig sei. Nach Ansicht der Jungen Tafel Göttingen ist das jedoch nicht ausreichend. Wer einen solchen Grundrechtseingriff anordnet, hat die Pflicht, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um die negativen Folgen für die Betroffenen so weit es nur geht zu lindern. Es ist festzuhalten, dass die Stadt Göttingen dieser Pflicht nicht nachgekommen ist.
Spätestens seit dem Ausbruch im Iduna Zentrum hätte der Stadtverwaltung klar sein müssen, dass auch andere Hochhauskomplexe ein gewaltiges Gefahrenpotential bergen. Es wurden jedoch keinerlei erkennbare Maßnahmen ergriffen, um sich auf einen weiteren Ausbruch vorzubereiten. Dieses Nichtstun ist unverantwortlich. Und noch immer fehlt eine klare Strategie zur Vermeidung oder wenigstens früher Erkennung weiterer ähnlicher Fälle. Die Verfügbarkeit von Tests muss spätestens jetzt deutlich ausgedehnt werden, insbesondere dort, wo viele Menschen unter schlechten Bedingungen auf engem Raum zusammenleben, z.B. im Hagenweg oder der Europaallee.
Die Kommunikation mit den Bewohner*innen war und ist mangelhaft. Insbesondere ist hier zu kritisieren, dass Informationen über die getroffenen Maßnahmen zunächst nur in deutscher und englischer Sprache verfügbar gemacht wurden. Die Stadt Göttingen hätte wissen müssen, dass in dem Wohnkomplex Menschen vieler Nationalitäten wohnen und sie hätte die Informationen dementsprechend früher in mehrere Sprachen übersetzen müssen.
Da es weder notwendig noch angemessen noch verhältnismäßig ist, Menschen den Zugang zu Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs zu verweigern, und da es vielen Bewohner*innen aufgrund prekärer Lebenssituationen schlichtweg nicht möglich ist, Notvorräte anzulegen, ist die Stadt Göttingen in der Pflicht, die Versorgung mit diesen notwendigen Gütern von Beginn der Maßnahme an sicherzustellen. Allerdings zeigte sich auch hier auf erschreckende Weise, wie unvorbereitet die Stadt Göttingen war.
Versorgungspakete der Stadt kommen teilweise nicht an und es gibt Berichte über abgelaufene Lebensmittel, die von der Stadt verteilt wurden. Bei der Ausgabe bilden sich dichte Schlangen und Menschentrauben und es kommt zu sehr langen Wartezeiten. Es scheint, als würde sich die Stadt damit zufrieden geben, dass niemand verhungert. Angesichts der angespannten und für die Bewohner*innen sehr belastenden Situation wäre hier eine größere Anstrengung vonseiten der Stadt angebracht.
Die Versorgung der Bewohner*innen mit frischen Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs, wie z.B. Windeln und Babynahrung, wird so vor allem durch das beherzte Engagement solidarischer Privatpersonen getragen. Diesen Menschen gilt ein besonderer Dank. Dass ihr Einsatz überhaupt notwendig ist, belegt, dass Kritik gegen die Stadtverwaltung in dieser Hinsicht gerechtfertigt ist.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Verfehlungen vonseiten der Verantwortlichen ist die Gewalt, die am 20.06.2020 von einzelnen Bewohner*innen gegen die vor dem Haus postierten Polizeibeamten ausging, zu erklären, aber nicht zu entschuldigen. In diesem Zusammenhang verurteilt die Junge Tafel Göttingen jegliche Form von Gewalt. Das gilt selbstverständlich auch für den Einsatz von Pfefferspray gegen Kinder, der durch nichts zu rechtfertigen ist.
Jetzt evakuieren!
Man stelle sich einmal vor, ohne vorherige Ankündigung durch Zäune und Polizei auf engstem Raum mit über hundert Menschen, die mit einem ansteckenden und potentiell tödlichen Virus infiziert sind, eingesperrt zu werden. Diese Situation ist für gut 580 Personen in der Groner Landstraße 9,a,b seit letztem Donnerstag Realität. Sie haben kaum eine Möglichkeit, dem Risiko einer Infektion aus dem Weg zu gehen, z.B. bei der Ausgabe von Mahlzeiten. Parallel droht eine ähnliche Situation im Grenzdurchgangslager Friedland, in dem nach aktuellem Stand 21 Bewohner*innen und eine Mitarbeiterin mit Covid-19 infiziert sind. Gleichzeitig stehen in Göttingen und Umgebung Hotels und Wohnraum leer.
Laut Stadtverwaltung ist es Personen, die doppelt negativ getestet wurden und die keine Symptome zeigen, seit Montagabend gestattet, das Gebäude unter Auflagen zu verlassen. Die Junge Tafel Göttingen begrüßt diese Lockerung. Allerdings sind auch diese Personen weiterhin darauf angewiesen, dieselben Türklinken, dieselben Flure und dieselben Aufzüge zu benutzen, und sind so weiterhin einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Aus diesem Grund halten wir eine vorübergehende dezentrale Unterbringung für sinnvoller.
Die Stadt Göttingen hat nach eigenen Angaben bereits bei Hotels angefragt, ob sie negativ getestete Personen vorübergehend aufnehmen können. Diese Anfrage habe jedoch nichts ergeben. Angesichts der unzumutbaren Risiken für die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9,a,b und anderen sozialen Risikogruppen wie Obdachlosen und Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften, vertritt die Junge Tafel Göttingen die Meinung, dass eine Evakuierung und Unterbringung in Hotels unerlässlich ist. Dementsprechend sollten Hotelbetreiber*innen und Eigentümer*innen von Leerstand, die sich offenbar nicht freiwillig dazu bereit erklären, dazu verpflichtet werden, gefährdete Personen vorübergehend aufzunehmen. Ihre Berührungsängste und Vorurteile dürfen kein Grund sein, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sozial benachteiligter Personen mit Füßen zu treten.
Wohnungspolitik in Göttingen
An dem Beispiel der aktuellen Covid-19-Ausbrüche zeigen sich altbekannte Missstände und Fehlentwicklungen in der Wohnungspolitik. Seit Jahren steigen in Göttingen wie anderswo die Mieten und es kommt zu Verdrängungseffekten. Seit 2011 ist die durchschnittliche Kaltmiete für eine 30m²-Wohnung in Göttingen um knapp 30% auf 11,59€ gestiegen (Stand 2019). Dadurch wird die Entwicklung sozialer Brennpunkte, insbesondere im Iduna Zentrum, der Groner Landstraße und dem Hagenweg, begünstigt.
Dort wiederum profitieren Wohnungseigentümer*innen und Vermieter*innen davon, Wohnungen günstig kaufen und teuer vermieten zu können. Denn im Regelfall zahlt hier der Staat verlässlich und pünktlich die Mieten. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Junge Tafel Göttingen fordert ein sozial gerechtes Wohnraumgesetz, das Spekulation mit Wohnraum einschränkt und sicherstellt, dass die Zwangslage der Bewohner*innen nicht weiterhin ausgenutzt wird.
Es ist ein bekanntes Problem, dass bezahlbarer Wohnraum immer knapper wird. Die Junge Tafel Göttingen bedauert den mangelnden politischen Willen, große Wohnungsbauprogramme auf den Weg zu bringen. Um auf eine langfristige Lösung hinzuarbeiten, wäre es ein begrüßenswerter erster Schritt, einen runden Tisch mit politischen Entscheidungsträger*innen und Vertreter*innen aller relevanten Interessensgruppen einzurichten.
Stigmatisierung
Aktuell unterstützt die Tafel Göttingen ca. 95 Bewohner*innen der Groner Landstraße 9,a,b mit geretteten Lebensmitteln. Deshalb kennen wir viele der Betroffenen. Es macht uns traurig zu sehen, dass diese Menschen schon seit Längerem und jetzt noch verstärkt einer unbegründeten Stigmatisierung ausgesetzt sind.
Die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9,a,b sind nicht Schuld an dem Ausbruch. Dass dies überhaupt betont werden muss – im Gegensatz etwa zu Ausbrüchen in Pflegeheimen mit vergleichbaren Fallzahlen – zeigt, wie stark rassistische Vorurteile die öffentliche Wahrnehmung prägen. Diese werden durch eine selektive Berichterstattung, die sich auf „Randale“ konzentriert und die berechtigten Sorgen und Interessen der Bewohner*innen außen vor lässt, verstärkt.
Die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9,a,b erfahren eine starke soziale Ausgrenzung. Klassistische und Rassistische Strukturen machen es ihnen nahezu unmöglich, bezahlbaren Wohnraum im Stadtgebiet außerhalb der großen „Problembunker“ zu finden. Dabei ist die Benachteiligung auf dem Wohnungsmarkt bloß ein Beispiel von vielen. Im Alltag sehen sich Bewohner*innen regelmäßig systematischer Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft und ihrer finanziellen Situation ausgesetzt. Die Tafeln stellen sich klar und deutlich gegen jegliche Form des Rassismus und der Stigmatisierung. Deshalb verurteilen wir auch den diskriminierenden Umgang mit und die Berichterstattung über die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9,a,b.